Von den Ursprüngen

Text von Dr. Bettina Baumgärtel im ersten Katalog von Myriam Thyes, 1996

Längst hat die Kunst ihre Unschuld verloren und mit ihr die Betrachter/Innen. Kein Bild ist heule rein und ursprünglich, sondern es ist immer ein Bild zwischen dem davor und dem danach, denn ohne Zweifel war vor dem Bild immer schon ein Bild, dem wieder eines folgen wird.

Insofern wundert es nicht, dass dem Bild im Sinne der reinen Nachahmung von Wirklichkeit kein Glauben mehr geschenkt wird. Ist es doch immer ein vermitteltes, ein Produkt aus zweiter Hand, das aus einem Fundus von vorgegebenen Bildern, nicht nur der Massenmedien, der Zeitungen, des Kinos und Fernsehens, sondern aller erdenklicher Formen des Visuellen hervorgeht und dabei mit der mediatisierten Bilderflut und ihren kulturellen Codes in Interaktion tritt.

In der Malerei der 1990er Jahre stellen deshalb Künstler/Innen die Frage nach dem Wesen des Visuellen für die Malerei neu. In diesen sich neu entwickelten Ansätzen wird die Malerei als Produkt von Modellen in zweifacher Hinsicht verstanden, als Modell von Malerei (von dem, was Malerei sein könnte) und als Lebensmodell.

Für diejenigen, die immer noch der Fiktion von der Ursprünglichkeit der Kunst anhängen, die ihre eigene Kunstproduktion gerne losgelöst von der Geschichte als ureigene schöpferische Leistung, und sich selbst als einzigen Quell authentischen Schöpfertums verstehen, mag die Entdeckung jener Kette von Bild-Ursprüngen wahrhaft enttäuschend sein.

Für Myriam Thyes ist das Wissen um Bilder, die ihren Ursprung in einem bereits vorhandenen Bild haben, nicht nur eine Selbstverständlichkeit, sondern sogar Prinzip ihrer künstlerischen Arbeit. Myriam Thyes greift auf uralte Symbole zurück. Sie gibt komplexen Botschaften eine einfache und klare Gestalt, sucht im Rückgriff auf urzeitliche Funde allgemeinverständliche Formen und reaktiviert so Vorgefundenenes und Verlorengegangenes, nicht ohne ihm eine zeitgemäße Deutung zu geben. Sie spürt matriarchaler Weisheit nach, verpflanzt Relikte einer frauenmächtigen Urzeit in die Jetztzeit und behauptet ihre überzeitliche Gültigkeit.

Sie offenbart damit jenes Bewusstsein von einer kontextbezogenen Visualität, das sie sowohl als zeitgemäße Vertreterin der postmedialen Kunst der 90er Jahre, als auch als Weltbürgerin zu erkennen gibt, die gegen den Strom des Vergessens und der Vieldeutigkeit mit großen Schritten durch die außereuropäischen Kulturen und die urzeitliche Frauengeschichte eilt.

über der gläsernen Stahlbetonwelt der postmodernen Architektur von La Défense in Paris schweben die Umrisse afrikanischer, ägyptischer oder griechischer Masken und Figuren, unwirklich wie körperlose Seelen oder schemenhafte Wesen. In dieser Serie von überarbeiteten Fotografien scheinen sich die Repräsentanten der alten Kulturen auf den ersten Blick den architektonischen Formen und damit kolonialer Macht unterordnen zu müssen. Bei längerem Betrachten jedoch wird die Architektur Hintergrundfolie. Das architektonische Raster fügt sich wie eine Tätowierung in die Körperformen ein, so dass die archaischen Gesichter und Figuren zum eigentlichen Leitmotiv, La Défense zur Begleitmusik wird, fast als schiebe sich die alte Welt vor die neue und überdauere diese, nicht ohne von den Mustern militärischer Macht der neuen Welt geprägt zu sein.

Die großformatigen, mit hoher technischer Perfektion ausgeführten Gemälde der Künstlerin sind voller meditativer Stille, vermitteln damit aber keine naive Gegenwelt zu den wechselhaften Bildern der neuen Medien, vielmehr überschreiten sie die moderne mediale Welt, um in eine archetypische Sphäre einzutreten und in der Transformation dieser Medien zu einer metasprachlichen Codierung zu gelangen. In diesen Gemälden, die zugleich als Erinnerungsbilder einer verlorenen Welt und "Wunschbilder" mit utopischem Gehalt lesbar sind, wird Allgemeingültiges reklamiert und als Lebensmodell antizipierbar. Durchaus typisch für die Malerei der 90er Jahre, in der vielfach neben Gestaltfragen die Fragen nach den allgemeinverständlichen Botschaften, den Codes treten, tendiert auch diese Malerei zur bloßen Zeichensprache, zum Signet oder zitathaften Kürzel.

Die Bilder von Myriam Thyes können aus zweierlei Gründen als ursprungshafte Arbeiten bezeichnet werden, nicht nur weil sie sich zu ihren Ursprüngen bekennen, sondern auch ganz vordergründig gemeint, weil sie sich auf die Ursprünge weiblicher Lebensformen besinnen.

In neueren Arbeiten, wie den 25 Video-Standfotos SARAH, reagiert Myriam Thyes auf erst kürzlich entstandene Bilder aus dem Science-Fiction-FiIm 'Terminator 2 - Judgement Day'. Sie greift sich Stills, meist Großaufnahmen der Hauptdarstellerin und des männlichen, körperlosen Gegenparts, heraus und fügt davon je eines spielkartenartig zum anderen, um sie dann allesamt wie in einer Fieberkurve von Kalt nach Warm zu einer Serie von Ausdrucksstudien aneinander zu reihen. So entstehen aus den vorgegebenen "Ursprungsbildern" eigene, neue Bilder. Gewünschter Nebeneffekt dürfte sein, dass die Künstlerin dabei die uralten Codes dieses scheinbar zukunftsträchtigen Films als anachronistische Variante der christlichen Heilsgeschichte entlarvt.

Dieses Prinzip, die Visualisierung im Kontext vorgegebener Bilder, zeigt, dass es Myriam Thyes nicht nur um die Reflexion der Wirklichkeit, sondern um die Schaffung eines neuen Modells von einer künstlichen Welt geht, die ihre eigenen Codes ausgebildet hat. Diese Codes entschlüsselt, ja entzaubert sie und gelangt so zu einer offeneren, freier verfügbaren Bildsprache, nicht ohne erneut Codes für vielerlei Gefühlsstufen festzulegen.

Ganz nebenbei überschreitet sie dabei die Malerei, steigt ein in ein jenseits des Piktoralen angesiedeltes Denken, überschreitet aber letztlich nicht den Horizont des Visuellen. Folgerichtig nennt sie ihre Arbeiten 'Umbildungen' und nicht Neubildungen. Just durch die Hintertür gewinnen so die Kunst und die Betrachter/Innen ihren Schöpfermythos wieder, denn das Bilden, ob um oder neu, setzt immer einen kreativen Prozess voraus, und es scheint, als sei das Schöpferische recht eigentlich im Prozess des Umbildens angesiedelt.

Dr. Bettina Baumgärtel, Leiterin der Gemäldesammlung, Museum Kunstpalast, Düsseldorf 1996

 

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